Neckarzimmern
19

49.3214414, 9.1328625

Deportation

Bisher wurde, aufgrund der Liste der polizeilich gemeldeten Juden vom 8. Dezember 1940, angenommen, dass am 22. Oktober 1940 12 Personen aus Neckarzimmern nach Gurs deportiert wurden. Nach weiteren Dokumenten des Gemeindearchivs vom 20. November 1940 waren es jedoch 13 Personen, da sich zum Zeitpunkt der Deportation auch Frieda Falkenstein am Ort aufhielt. Sie war laut den Wiedergutmachungsunterlagen des Generallandesarchivs Karlsruhe seit 15. April 1940 Dienstmädchen in einem jüdischen Haushalt in Frankfurt, kehrte aber im Oktober 1940 in ihren Geburtsort Neckarzimmern zurück, wo sie bei der Witwe Emma Bauer geb. Rosenstein wohnte: „Aus den Devisenakten geht hervor, dass die Verfolgte in Frankfurt/Main, Fürstenbergerstr. 177 bei Mayer als Hausangestellte tätig war. Sie ist nach der in den Devisenakten angeführten Auskunft der jüdischen Gemeinde vom 8.12.1942 vor diesem Zeitpunkt nach Neckarzimmern zurückgekehrt und von dort aus mit dem Transport abgeschoben worden".  Sie überlebte die schlimmen Lagerbedingungen in Gurs sowie Rivesaltes und wurde über das Sammellager Drancy am 10. August 1942 nach Auschwitz verbracht, wo sie ums Leben kam. Auch ihre Vermieterin Emma Bauer wurde in Auschwitz ermordet

Auf der Liste der in Neckarzimmern gemeldeten Juden stand 1940 der Name von Emma Hofmann geb. Jordan. Sie lebte mit einem Protestanten in einer sogenannten „Mischehe“, weshalb man sie nicht deportierte und sie die Shoa überlebte. Emma Hofmann war nach 1940 die letzte Einwohnerin jüdischer Herkunft.

Die einzigen Überlebenden der insgesamt 13 Deportierten waren Jakob Oppenheimer sowie die Schwestern Irene und Senta Luzy Manasse. Die anderen Deportierten kamen in Gurs, im französischen Lager Rivesaltes und nach der Weiterbringung im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben.

Die 14jährigen Zwillinge Max und Jakob Oppenheimer waren die jüngsten der Deportierten aus Neckarzimmern. Sie wurden mit ihren Eltern Else und Abraham Oppenheimer im August 1942 vom französischen Lager Rivesaltes aus nach Auschwitz verbracht und dort ermordet. Hilfsorganisationen holten die Schwestern Irene Manasse (*1923) und Senta (1926*) im August 1942 aus dem Lager. Sie kam vermittelt durch die OSE nach Vic-sur-Cère in ein Heim der Hilfsorganisation „Amis Chretienne“. Dort erhielten sie vom Sekretär des Bürgermeisters gefälschte Papiere. Senta Manasse schloss sich 1943 der französischen Résistance an. Sie gab sich als Elsässerin aus und nannte sich „Suzanne Laurent”. 

Jüdische Ortsgeschichte

In Neckarzimmern gab es bis 1940 eine israelitische Gemeinde. Erstmals sind 1550 zwei jüdische Familien im reichsritterschaftlichen Dorf nachgewiesen und 1703 werden sieben jüdische Einwohner genannt, die Schutzgeld entrichteten. Die jüdische Gemeinde soll schon 1534 bestanden haben. Ihr Betsaal war in einem von der Grundherrschaft gemieteten Haus untergebracht, das sie 1823 kaufte. 1873 wurde auf den Grundmauern dieses Hauses ein neues, einstöckiges Gebäude errichtet (Steige 4), das neben einem Betsaal ein rituelles Bad und ein Zimmer für den Religionsunterricht umfasste. Ihre Toten verbracht die jüdische Gemeinde auf den Verbandsfriedhof in Heinsheim.

Die jüdischen Einwohner des Dorfes betrieben Viehhandel und es gab noch in den 1930er-Jahren die Gemischtwarenhandlung von Karoline und Rosa Bauer sowie das Manufakturwarengeschäft von Henriette Oppenheimer. Die jüdische Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Mosbach und besaß ab etwa 1827 eine eigene Synagoge mit Ritualbad, die man 1873 wegen Baufälligkeit durch einen Neubau ersetzte.  Ihre Toten bracht die jüdische Gemeinde auf den Verbandsfriedhof in Heinsheim. Das Interieur der Synagoge wurde während der Reichskristallnacht 1938 verbrannt und das Innere demoliert, das Gotteshaus wurde danach als Wohnhaus genutzt. Der jüdische Handler Hans Albrecht Pinner wurde als Folge der Reichskristallnacht im November 1938 zeitweise im KZ Kislau bei Bruchsal interniert.

Die jüdische Bevölkerungsentwicklung zwischen 1825-1930:

Jahr

Jüdische Bevölkerung

1825

   69

12,2% von 556 Einwohner

1845

   65

 

1875

  39

 

1900

  51

6,6 % der Einwohnerschaft

1933 zählte die jüdische Gemeinde von Neckarzimmern nur noch 29 Mitglieder, 18 von ihnen wurden Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns. Während des Novemberpogroms 1938 zwangen SS-Männer die jüdischen Männer die Möbel, Kultgegenstände und Gebetbücher aus ihrer Synagoge zu holen und zum Sportplatz zu fahren, wo sie alles verbrennen ließen. Anschließend steckten die SS-Männer, unterstützt von anderen Nationalsozialisten, die Synagoge in Brand.

Jüdische Neckarzimmerer NS-Opfer, die nicht von Neckarzimmer aus deportiert wurden.

Jakob Schlößinger hatte um 1910 in Halberstadt eine jüdische Bäckerei eröffnet. Laut dem Gedenkbuch des Bundesarchivs wurde er am 14. April 1942, mit seiner Frau Adelheid geb. Katzmann, über Magdeburg, Potsdam und Berlin in das Warschauer Ghetto verbracht.

Giga (Gertrud) Falkenstein ist ein Opfer der NS-Euthanasie und wurde 1940 in der Heilanstalt Grafeneck ermordet, wie Dr. Hans-Werner Scheuing aus Neckargemünd im Zuge seiner Recherchen feststellte.

Der Viehhändler Alfred Bauer war in den 1930er-Jahren nach Strümpfelbrunn gezogen und von dort nach Österreich ausgewandert. Er wurde von Wien nach Maly Trostinez bei Minsk deportiert, wo er am 5. November 1942 verstarb.

Berta Alexander geb. Oppenheimer wurde zusammen mit ihrem Ehemann Max Alexander 1940 von ihrem Wohnort Adelsheim nach Gurs deportiert. Beide fanden in Auschwitz den Tod.

David Schlößinger (1881-1942) wurde am 22. Oktober 1940 von seinem Wohnort Mosbach nach Gurs deportiert. Er ist am 14. Januar 1242 im französischen Lager Rivesaltes verstorben.

Moses Schlößinger (1890-1942) lebte in Thingen und Kitzingen. Laut dem Gedenkbuch des Bundesarchivs wurde er am 24. März 1942 nach Izbica in Polen deportiert.

Durch die rechtzeitige Auswanderung überlebten 13 jüdische Einwohner die Shoa: Fanny Eckstein geb. Bauer (Palästina), Max Bauer (Großbritannien), Henriette Brunn. geb. Oppenheimer, Irma Falkenstein, Heinrich Falkenstein, Johanna Falkenstein geb. Kahn, Moses Falkenstein, Regina Falkenstein geb. Niedermann, Sophie Falkenstein, Amanda Oppenheimer geb. Binder, Ilse Oppenheimer, Jakob Oppenheimer, Manfred Oppenheimer (alle USA). Max Bauer kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück und zog nach Kellmünz bei Memmingen.

Zeugnisse jüdischen Lebens
Gedenksteine

Oberhalb von Neckarzimmern liegt das Mahnmal für die deportierten Jüdinnen und Juden Badens auf dem Gelände der Jugendbildungsstätte Neckarzimmern. Das Mahnmal ist frei zugänglich.

Andere Zeugnisse

Zentrales Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten Juden aus Baden

Auf dem Areal der Evangelischen Jugendbildungsstatte befindet sich heute die zentrale Gedenkstätte für die insgesamt über 5.600 deportierten badischen Jüdinnen und Juden. 2004 wurden die ersten Gedenksteine aufgestellt. Die offizielle Übergabe an die Öffentlichkeit, des durch den Künstler Karl Vollmer aus Gondelsheim unterstützten Projekts, erfolgte am 23. Oktober 2005. Die französische Gedenkstatte Gurs stellte am Mahnmal einen besonderen Gedenkstein in Form eines Koffers auf, was ein Zeichen für die gemeinsame europäische Erinnerungskultur ist. Nach dem früheren badischen Landesbischof Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh sei es in Neckarzimmern gelungen, Mahnung als Begegnung zu gestalten. Am 23. Oktober 2022 besuchte die neue evangelische Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart das Mahnmal und hielt anlässlich der jährlichen Gedenkveranstaltung eine Ansprache.

In den 1943/1944 im Auftrag des Reichsministers Speer und der paramilitärischen Bautruppe „Organisation Todt“ gebauten Baracken auf dem Gelände waren während des Zweiten Weltkrieges Wehrmachtsangehörigen, Ingenieuren, Fach- und Bauarbeitern untergebracht aber auch zahlreiche Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Letztere mussten in den Gipsstollen arbeiten und waren u.a. in Mosbach, Haßmersheim und Gundelsheim untergebracht. Bauch dieser Teil seiner Geschichte macht das Mahnmal in Neckarzimmern zu einem symbolträchtigen Ort, der den Auftrag zeitgemäßer Erinnerungs- und Bildungsarbeit erfüllt.

Quellen
Hundsnurscher, Franz / Gerhard Taddey: Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Veröffentlichung der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 19, Stuttgart 1968, S. 210-211
Obert, Hans: Die jüdische Gemeinde Neckarzimmern, in: 1200 Jahre Neckarzimmern 773 - 1973, S. 224-228
Golgath, Michael: 1250 Jahre Neckarzimmern (773-2023), in: 1250 Jahre Neckarzimmern 773-2023, Neckarzimmern 2023, S. 9-48
Brändle, Brigitte u. Brändle, Gerhard: Jüdische Kinder im Lager Gurs: Gerettete und ihre Reter*innen. Fluchilfe tut not - eine notwendige Erinnerung. Karlsruhe 202020