Alice
Fleischel (geb. Rossin)
Alice Fleischel starb am 26. April 1941 im Lager Gurs unter den katastrophalen Lagerbedingungen.
Die Akte Alice Sara Fleischel
(Text verfasst von Radolfzeller Konfirmandinnen und Konfirmanden)
Zehn Konfirmandinnen und Konfirmanden der Evangelischen Kirchengemeinde in Radolfzell erforschten im Mai 2005 die Hintergründe der Deportation von Alice Fleischel aus Radolfzell, der einzigen Jüdin, die in Radolfzell am 22. Oktober 1940 nach Gurs in Südfrankreich deportiert worden ist.
Am Anfang des Projektes gab es nur eine einzige Zeile über die Deportation von Juden und Jüdinnen aus Radolfzell. In einer von den Nazis veröffentlichten Liste, in der die Deportierten aufgeführt sind, wird unter der Nummer 2579 genannt: Fleischel geb. Rossin - Alice Sara - 4.6.1873 - wohnhaft in München.
Die Konfirmandinnen und Konfirmanden wollten zusammen mit Pfarrer Stefan Ramsauer Licht in das Schicksal von Alice Fleischel bringen: Wer war Alice Fleischei? Wo kam sie her, warum ist München als Wohnort angegeben, hatte sie Verwandte, warum lebte sie im Oktober 1940 in Radolfzell? Und natürlich die Frage, ob Alice Fleischel - damals 67 Jahre alt - die Deportation überlebt hat.
Die ersten Versuche, etwas über Alice Fleischel in Erfahrung zu bringen, scheiterten. Internet und Bücher über die Verfolgung brachten keine Ergebnisse. Erst ein Gespräch mit dem Radolfzeller Stadtarchivar Dr. Fenner führte zu ersten Informationen. Wir erfuhren folgendes über jüdische Bewohner in Radolfzell:
a) 1936 fliehen die Eheleute Bleicher nach Israel, sie waren die letzten Juden, die in Radolfzell lebten. Sie hatten ein Bekleidungsgeschäft (heute Volksbank in Radolfzell).
b) 1939 erklärt der Bürgermeister von Radolfzell, dass es in der Stadt keine Juden mehr gibt.
c) Es gab in Radolfzell 3 Ehepaare, von denen ein Partner ein sogenannter „Halbjude“ war. Alle drei Ehepaare haben den Krieg überlebt.
d) 1942 im Krankenhaus stirbt eine jüdische Frau: Frieda Magnus, geb. 1895, aus Berlin. Sie stirbt an Gift. Es ist zu vermuten, dass sie sich selbst vergiftet hat, weil sie keinen Ausweg mehr wusste. Möglicherweise hat sie in die Schweiz fliehen wollen, es aber nicht geschafft.
Herr Fenner zeigt uns im Archiv die alten Einwohnermeldekarten. Wir finden die Karteikarte von
Klara Fleischel geb. Rossin, geb. 4.6.1873 in Hamburg, evangelisch, verwitwet, Staatsangehörigkeit: deutsches Reich
Ausgewiesen durch Kennkarte A 371178, ausgestellt in Berlin-Charlottenburg, zuletzt wohnhaft in München, Kaulbachstr. 22a.
Im Archiv gibt es ein Schreiben vom 2. Juli 1940 „Aufenthalt von Juden betr. ". Hierin heißt es:
Das Polizeirevier teilt mit, dass sich seit Mitte April im Hotel Schiff eine Jüdin Frau Alice Fleischel geb. Rossin, geb. 4.6.1873, als Gast befinde. Dieselbe sei ohne festen Wohnsitz und nur auf Fremdenzettel gemeldet. Hotelier Strudel habe es unterlassen, die vorgeschriebene Anzeige zu erstatten und werde deshalb bestraft ... "
Wir können ein Stück des Lebens von Alice Fleischel nachzeichnen:
Alice Fleischel, geb. Rossin ist in Hamburg am 4.6.1873 geboren. Im Laufe ihres Lebens zog sie von Hamburg nach Berlin. Dort ließ sie sich ihre Kennkarte ausstellen. Von Berlin ist sie irgendwann nach München gezogen. Das ist ihr letzter fester Wohnsitz, bevor sie nach Radolfzell kam. Wir vermuten, dass sie nach Radolfzell kam, um in die Schweiz zu flüchten. Hier wohnte sie im Hotel Schiff in der Bahnhofstraße 1 von Mitte April 1940 bis zum 22.10.1940. Sie wurde von der Polizei aufgefordert zu gehen, aber der Bürgermeister vernachlässigte die Angelegenheit, sie konnte weiter im Hotel Schiff wohnen. Am 22.10.1940 wurde sie aber überraschend abgeholt und nach Gurs deportiert. Dort starb sie nach Angaben des Amtsgerichts Radolfzell am 26.04.1941. Doch das Todesdatum ist willkürlich gewählt; das Amtsgericht hat dies am 27.11.1952 auf Antrag der Enkelin von Alice Fleischel erklärt. Das bedeutet, dass Alice Fleischel einen Sohn oder eine Tochter gehabt haben muss.
Wir treffen uns noch einmal mit dem Stadtarchivar Dr. Fenner, der inzwischen weitere Nachforschungen angestellt hat.
Wir haben bisher angenommen, dass der Todestag 26. April 1941 willkürlich festgelegt worden ist. Anfragen beim Amtsgericht bzw. Notariat Radolfzell haben ergeben, dass es das tatsächliche Sterbedatum ist. Alice Fleischel ist am 26. April 1941 in Gurs gestorben.
Anfragen in Berlin blieben ergebnislos, weil alle Unterlagen im Krieg vernichtet worden sind. Anfragen in München hatten insofern Erfolg, als es eine MeIdekartei gibt, die über viele Einzelheiten Auskünfte gibt.
Alice Fleischel war verheiratet mit Egon Fleischel, geboren am 12.05.1862 in Hamburg, gestorben am 28.01.1936 in Berlin; es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es ein natürlicher Tod war. Egon Fleischel war Verlagsbuchhändler, zunächst als stiller Teilhaber am Verlag Friedrich Fontane und Co. Friedrich Fontane ist der Sohn von Theodor Fontane, der die Werke seines Vaters herausgab. Später war er selbständiger Verlagsbuchändler und gründete den „Egon Fleischel-Verlag". 1921 verkaufte er seinen Verlag an die Deutsche Verlagsanstalt (dva)..
Die Eltern von Alice Fleischel hießen Julius Rossin und Klara Rossin geb. Oppenheimer. Die Eltern von Egon Fleischel hießen August Fleischel und Regina Fleischel geb. Oppenheimer. Die bei den Mütter dürften aber nicht verwandt gewesen sein, weil der Name „Oppenheimer" sehr häufig vorkommt. Die Schwiegereltern von Alice Fleischel sind beide in Italien gestorben, so dass vermutet werden kann, dass Alice Fleischel nicht - wie von uns angenommen wurde - in die Schweiz wollte, sondern möglicherweise nach Italien.
Die Eheleute Alice und Egon Fleischel hatten zwei Söhne: Erich Egon Fleischel, geb. am 16.07.1897 in Berlin, und Günter Rolf Fleischel, geboren am 01.06.1903 in Berlin. Beide Kinder wurden evangelisch getauft. Die Eltern wurden offensichtlich im Jahr 1897 evangelisch. 1939 war Erich Egon Fleischel, der ältere der beiden Söhne, in Paris. Erich Egon war verheiratet und hatte zwei Kinder, Hans Jürgen und Marie Louise. Er wurde 1943 im Konzentrationslager Maidanek ermordet. Der jüngere Sohn, Günter Rolf, war in Hameln im Zuchthaus.
Über Günter Rolf gibt es einen umfassenden Lebensbericht. Wir erfahren, dass er mit 16 Jahren zum katholischen Glauben übertrat, dass er nationalsozialistisch gesinnt war und dass er erst beim Tod seines Vaters 1936 erfährt, dass er von der Abstammung her Jude ist. Er ist Vertreter, hat ein Liebesverhältnis mit einer Nichtjüdin, er wird 1939 zu Zuchthaus verurteilt (Zuchthaus Hameln). Danach kommt er in Sicherheitsverwahrung ins Konzentrationslager nach Riga in Lettland. Dort wird er Lagerältester und hat das Vertrauen der Lagerleitung, ist aber gefürchtet bei den Insassen des Lagers. Als er an Magenkrebs in Riga stirbt, soll die SS Salut über seinem Grab geschossen haben. Vom Mai und September 1940 gibt es zwei Briefe von Günter Rolf an seine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt schon in Radolfzell ist, die aber nicht abgeholt werden und zurück nach Hameln gehen. Aus den Briefen geht hervor, dass Alice Fleischel 5 Reichsmark ins Zuchthaus geschickt hat.
Der Meldekarte in München sind noch zwei Details zu entnehmen.
a) Alice Fleischel hat schon in München in einer Pension gewohnt (Pension Siebert in der Kaulbachstraße 22a). Am 5. April 1940 wird ihr Aufenthalt überprüft, am 8. April 1940 wird ihr Wegzug nach Baden-Baden eingetragen.
b) Als Religionsmerkmal ist bei der Geburt "jüdisch" eingetragen, auf der Einwohnermeldekarte in München "freireligiös" und auf der Einwohnermeldekarte in Radolfzell "evangelisch."
Millionen von Juden und Jüdinnen sind während der Nazizeit in Deutschland umgekommen. Aus Radolfzell war es nur eine einzige Frau, und doch war das zu viel. Wir wollen die Erinnerung an Alice Fleischel in Radolfzell wach halten, damit sie nicht vergessen wird.
Stella Bärtschi, Laura Dierks, Alex Karle, Ann-Kristin Kederer, Witali Kraus, Beate Müller, Matthias Rosenberg, Markus Reihe, Isabell Schmidt, Lena Weigele, Stephan Ramsauer